23. September 2019
„Wir brauchen hochwertige Angebote“
Sprachwissenschaftlerin Christiane Maaß über Akzeptanz von Leichter Sprache,
zielgruppengerechte Ansprache und Prüfsiegel
Wie es immer so ist: In einen Artikel lässt sich nie alles hineinpacken, was wichtig und interessant ist. So war
es auch für meinen Beitrag „Texte für alle“ im Magazin „Politik und Kommunikation“, in dem Professorin
Christiane Maaß von der Forschungsstelle Leichte Sprache in Hildesheim zu Wort kommt. Aus unserem
Interview flossen nur Bruchstücke in den Magazintext. Und der „Rest“? Zu schade für die Dateiablage. Viel
zu schade. Deshalb gibt‘s hier das ausführliche Gespräch.
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Frau Maaß, Vertreter von Behörden und Verwaltungen berichten, dass
ihre Web-Angebote in Leichter Sprache kaum aufgerufen werden.
Erreichen Informationen in Leichter Sprache ihre Leser vielleicht
besser in gedruckter Form? Können sie eine Empfehlung geben?
Die mediale Umsetzung sollte sich nach den bevorzugten Nutzungsformen
der User richten. Online alleine ist häufig nicht sinnvoll, da ein großer Teil
der Leichte-Sprache-Nutzer Informationen nicht primär online beschafft.
Ältere Menschen sind weniger internet-affin als jüngere und wer in
Einrichtungen wohnt, hat teilweise keine Endgeräte oder kein
Datenvolumen zum Zugriff auf Online-Angebote. Und häufig muss man
sich, um online beim Leichte-Sprache-Angebot anzukommen, erst durch
viel nicht barrierefreien Text durchklicken. Online-Informationen auf
Behörden-Homepages sind gesetzlich vorgeschrieben und werden sicher
auch den einen oder anderen Nutzer erreichen. Zusätzlich Print zur
Verfügung zu stellen, ist aber meist sinnvoll.
Was entgegnen Sie Kritikern, die in Leichter Sprache Gleichmacherei
auf niedrigem Niveau sehen, das Sprachkonzept als arrogant
empfinden, falsches Deutsch und eine Verkürzung des Inhalts
bemängeln?
Leider sehen wir uns in Deutschland einer Fülle von sehr schlechten
Leichte-Sprache-Texten gegenüber, auf die genau diese Beschreibung
zutrifft. Ich würde Kritiker hier auf Angebote verweisen, die gut gemacht
sind, zum Beispiel die Nachrichten in Leichter Sprache des NDR oder
„Einfach Heidelberg“. Es zeigt sich aber an solchen Kritiken, dass schlechte
Leichte-Sprache-Texte einen Schaden für die Sache der Verständlichkeit
anrichten, weil sie das Bild der Leichten Sprache in der Öffentlichkeit in
negativer Weise prägen.
Wie erreicht Leichte Sprache mehr Akzeptanz?
Akzeptanz muss man sich erringen, die kann man nicht einfach abfordern.
Soziologische Studien zeigen, dass sich Einstellungen gegenüber
Behinderung selbst über Informations- und Sensibilisierungskampagnen nur
bedingt ändern lassen. Die einzige Möglichkeit besteht meiner Ansicht nach
darin, die Leichte-Sprache-Texte so zu gestalten, dass sie weniger starke
Abwehrreaktionen provozieren. Wir brauchen hochwertige Angebote in
Leichter Sprache, die den Regeln der deutschen Orthografie entsprechen,
in Layout und Bebilderung hochwertig ausgeführt sind, aber auch zumindest
in gewissem Umfang den Erwartungen an die Textsorte entsprechen. Das
bedeutet zum Beispiel: keine falschen Bindestrichschreibungen, keine
kindlichen Bildchen zur Illustration. Beides provoziert zuverlässig starke
Abwehr bei Personen ohne Leseeinschränkung und befördert darüber
hinaus die Stigmatisierung der Leichte-Sprache-Leserschaft.
Sehr negativ sind auch die Reaktionen, wenn Leichte Sprache als Angriff
auf den Standard empfunden wird. Das ist dann der Fall, wenn Leichte
Sprache nicht als Zusatzangebot bereitgestellt wird, sondern mit Leichter
Sprache Adressaten jenseits der primären Nutzer angesprochen werden.
Also Leser, die keine Leichte Sprache brauchen.
Können Sie näher erklären, warum Leichte Sprache nur ein
Zusatzangebot sein sollte und nicht gut für alle ist?
Leichte Sprache besitzt ein begrenztes Funktionsspektrum: Sie soll Inhalte
für Menschen mit geringer Lesefähigkeit zugänglich machen. Richtet sich
Leichte Sprache an Menschen ohne Lese-Handicap, so enthält das die
Unterstellung, sie hätten ebenfalls eine Kommunikationseinschränkung.
Dies wird sehr genau wahrgenommen und die Reaktionen sind
entsprechend. Stellen Sie sich vor, Sie würden ein Gesetz verabschieden,
dass die Bürger beim Besuch im Bürgeramt in bestimmten Zonen nicht
laufen, sondern nur noch mit dem - natürlich vor Ort bereitgestellten -
Rollstuhl fahren dürfen. Denken Sie, dass die Menschen das im Sinne der
Inklusion hinnehmen würden? Oder würden sie vielmehr darauf beharren,
dass laufen darf, wer laufen kann, und sehr negativ reagieren, wenn Sie
sagen, das sei nun aber mal Gesetz?
Leichte Sprache eignet sich also nicht für eine Zwangsgeneralisierung über
die primäre Zielgruppe hinweg. Das entspricht nicht ihrem Zweck und wird
nicht zu einer besseren Inklusion führen, sondern vielmehr die Abwehr
gegenüber und die Stigmatisierung von Personen mit
Kommunikationseinschränkungen verstärken.
Gütesiegel gehören beinahe schon zur Leichten Sprache wie das
Amen in der Kirche. Inzwischen gibt es eine ganze Reihe. Inwieweit
bürgen Gütesiegel wirklich für Qualität von Leichte-Sprache-Texten?
Das Gütesiegel von Inclusion Europe bestätigt, dass in den Prüfprozess
Personen mit Behinderung eingebunden waren. Allerdings lädt man sich
das einfach herunter. Inclusion Europe könnte das zwar nachprüfen und das
Siegel auch entziehen, aber meines Wissens gibt es dafür keinen
Präzedenzfall, schon weil Inclusion Europe gar keine personelle Ressource
für so etwas hat. Regelkonformität ist mit diesem Logo nicht bestätigt und
schon gar nicht verbürgt.
Das Gütesiegel des Netzwerks Leichte Sprache bezieht sich auf die Regeln
des Netzwerks (einschließlich Bindestrich-Schreibung) und auf die
Mitgliedschaft der übersetzenden Agentur im Netzwerk Leichte Sprache.
Auch dort gibt es keine Nachprüfung der Texte, die Einhaltung der Regeln
es ist also nur eine Selbstverpflichtung.
Das Gütesiegel „Leichte Sprache wissenschaftlich geprüft“ der
Forschungsstelle Leichte Sprache bestätigt, dass der Einzeltext nach
wissenschaftlichen Standards geprüft und überarbeitet wurde. Insofern ist
hier tatsächlich Güte und Einhaltung der Regeln verbürgt. Hier gibt es auch
tatsächlich einen Präzedenzfall, bei dem das Siegel von uns zurückgezogen
wurde. Grund: Die Prüfergebnisse wurden nicht im veröffentlichten Text
umgesetzt.
In der interlingualen Übersetzung geht man seit Jahren einen anderen Weg:
Dort wird nicht etwa der Einzeltext mit Siegel versehen, sondern die
Struktur. Dazu gehören unter anderem also die Qualifizierung der
Ausführenden, die Qualität der Übersetzungsumgebung, das
Vieraugenprinzip, der Umgang mit den Daten. Die Erkenntnis dabei ist,
dass in qualitätvollem Umfeld in der Regel auch qualitätvolle Texte
entstehen.
Was halten Sie von der Forderung, dass Leichte-Sprache-Texte von
Testlesern geprüft werden sollen?
Ich halte Prüfungen auf der Einzeltextebene nicht für sinnvoll, denn sie sind
subjektiv und einzelfallbezogen. Sie geben keinen Aufschluss darüber, wie
echte Adressaten den Text nutzen. Wenn Prüfungen gewünscht werden,
können sie gerne umgesetzt werden. Mit Blick auf die Textverständlichkeit
und inhaltliche Qualität bringen sie aber keinen übergreifenden Nutzen
gegenüber einem Text von einem ausgebildeten Leichte-Sprache-
Übersetzer. Die Qualität des Texts ergibt sich vor allem aus der Qualität und
Qualifizierung der Übersetzer. Hier sehe ich auch unsere Aufgabe in der
Ausbildung im Rahmen von Studiengängen und Workshops.
Wie bindet die Forschungsstelle Leichte Sprache die Zielgruppe ein?
Ich finde es sehr wichtig, die Zielgruppen in die Evaluierung von
Textangeboten und in die Auswahl zu erstellender Texte einzubeziehen. Wo
fehlen Texte? Wie müssten diese aussehen? Wo ist Kommunikation noch
nicht barrierefrei? Sind bestehende Angebote sinnvoll? Können sie genutzt
werden? Wie werden sie genutzt? Können sie optimiert werden? Werden
sie überhaupt gefunden? Fehlt eine Audioumsetzung? Wird eine
audiovisuelle Umsetzung gewünscht? Ich staune, dass dies bislang kaum
stattfindet, denn mit solchen Feedback-Runden haben wir sehr gute
Erfahrungen gemacht.
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